Zur Wortherkunft des Enneagramm
Ich danke Dr. Alexandra Trachsel vom Department für Sprache, Literatur und Medien (SLM) der Universität Hamburg für Ihre Geduld und Zeit, die sie mir mit der Beantwortung einiger Fragen schenkte.
Bei Eric Salmon lesen wir: "Die älteste Spur seines Neuner-Schemas geht bis auf 600 v.Chr. zurück. Das Enneagramm, also das Neuneck, war das neunte der zehn Siegel des Pythagoras." Und: "Zu einer Zeit, wo sich alle Wissensweitergabe mündlich vollzog, bediente man sich häufig geometrischer Figuren, die unter anderem als didaktische Hilfsmittel dienten. Pythagoras hatte zehn geometrische Figuren als Träger der symbolischen Bedeutung der zehn Ziffern von eins bis zehn entworfen. Später hat man sie die »zehn Siegel des Pythagoras« getauft. Beim Enneagramm handelt es sich um das neunte der zehn Siegel des Pythagoras." (Salmon [1997]/ 1998: 16, 218; unter dem Text auf S. 218 ist das unregelmäßige Neuneck des gurdjieffschen Enneagramm-Symboles zu sehen)
Auf direkte Nachfrage konnte Salmon keine Quelle für seine Behauptung nennen, sondern lediglich eine Vermutung äußern. Die Vermutung wurde nicht bestätigt. (vgl. Lendt/ Schwarzlmüller 2004: 78) Auf der Webseite zur Herkunft des Enneagramm-Symbol wird hierauf näher eingegangen. Woher das Gerücht letztlich stammen könnte, wird im letzten Kapitel erläutert (Langversion zur Wissenschaftlichkeit des Enneagramm - Teil 2).
Kommen wir zu den Fakten hinsichtlich eines möglichen Bezuges zwischen dem Wort enneagramm und dem antiken Griechenland.
Helen Palmer schrieb in ihrem ersten Buch ([1988]/ 1991: 30) "ennéa = »neun« und grámma = »Geschriebenes, Buchstabe, Schrift«" und sieben Jahre später in ihrem nächsten Buch "Ennea heißt im Griechischen »neun« und gramma so viel wie »Bild, Figur«." (Palmer [1995]/ 2000: 25)
Was ist richtig ?
Richard Riso und Russ Hudson schreiben: "Das Wort Enneagramm kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus »ennea« (neun) und »grammein« (Figur, Abbildung) zusammen, bezeichnet also eine geometrische Figur mit neun Spitzen." (Riso/ Hudson [1999]/ 2000: 17)
Da das Wort enneagramm aus den Wörtern ennea und gramma oder grammein zusammengesetzt sein soll, entsteht schnell der Eindruck, das Wort gab es schon bei den alten Griechen. Um diesen Gedanken zu prüfen, schauen wir in das angesehene Lexikon für altgriechische Sprache - das Liddell-Scott Jones Lexicon (Link 2 - und in den Thesaurus Linguae Graecae> (der TLG ist über einen Universitätszugang oder einen anderweitig autorisierten Zugang nutzbar), der die meisten Texte der griechischen Literatur von Homer bis zum Fall des Byzantinischen Reiches im Jahr 1453 digitalisiert anbietet.
Das Wort grammein findet sich nicht im Liddell-Scott Jones Lexicon; stattdessen finden wir dort das Wort grammê. Dieses Wort bezeichnet den Strich eines Schreibers oder die Linie in mathematischen Figuren wie auch in gestalteten Buchstaben. Das Wort gramma verweist auf eine Zeichnung sowie auf die Linien einer Zeichnung oder eines Bildes wie auch auf Figuren in einem Bild und meint auch das Geschriebene, einen Buchstaben oder Dokumente. Eine einzelne Quelle benutzte das Wort gramma in der Bedeutung eines "mathematical diagram", was die "mathematische Zeichnung" des pythagoreischen Dreiecks meint. Diese Quelle ist der Philosophiehistoriker Diogenes Laertius, der im ersten Kapitel seines achten Buches über Pythagoras schreibt und dort im zwölften Absatz einen anderen Mathematiker in Bezug auf Pythagoras erwähnt:
"Der Mathematiker Apollodor berichtet, er [Pythagoras, G.E.] habe eine Hekatombe geopfert [Opfer von 100 Rindern, G.E.] nach Entdeckung des Satzes, daß das Quadrat der Hypotenuse im rechtwinkligen Dreieck gleich sei den Quadraten der beiden Seiten. Darauf gibt es auch folgendes Epigramm: Als Pythagoras einst die berühmte Zeichnung gefunden, Brachte als Opfer er dar herrliche Stiere dem Gott." (Diogenes Laertius ([3. Jh.]/ 2008): 110)
Bei Liddell/Scott/Jones findet sich das Wort pentagrammon mit dem Hinweis, dass dies einen gleichmäßigen fünfzackigen Stern meint (der ist im Buch sogar als kleine Grafik in Buchstabengröße abgebildet, [1843]/ 1996: 1360) - als Quelle wird auf Lucianus Samosatensis verwiesen. Eine englische Übersetzung der entsprechenden Stelle fnden wir bei Kilburn (1968: Volume VI):
"The divine Pythagoras chose not to leave us anything of his own, but if we may judge by Ocellus the Leucanian and Archytas and his other disciples, he did not prefix »Joy to you« or »Do well,« but told them to begin with »Health to you.« At any rate all his school in serious letters to each other began straightway with »Health to you,« as a greeting most suitable for both body and soul, encompassing all human goods. Indeed the Pentagram, the triple intersecting triangle which they used as a symbol of their sect, they called »Health.« In short they thought that health included doing well and joy, but that the converse did not altogether hold." (Kilburn 1968: 177f [Lucian, Absatz 5])
Die Substantive pentagramma und pentagrammon sind im TLG insgesamt neun Mal zu finden (Näheres dazu siehe Anmerkung unten). Die früheste Schrift mit dem Wort enneagrammon (εννεαγραμμον) verweist laut TLG auf Olympiodorus (vermutlich 5.-6. Jh. n. Chr.). In dessen Text meint das Wort enneagrammon laut Dr. Trachsel "ein Wort mit neun Buchstaben und vier Silben" (zusätzlich ist unklar, ob es sich hier in Wirklichkeit um das Wort enneagrammaton handelt, weil die antiken griechischen alchemistischen Schriften nicht gut überliefert sind). Das Wort enneagrammaton findet sich laut TLG ab der Spätantike (3.-6. Jh. n. Chr.) nur drei Mal in der griechischen Literatur und bedeutet "word of nine letters" (Liddell/Scott/Jones [1843]/ 1996: 569). Joel Kalvesmaki - Autor einer Dissertation mit dem Titel Formation of the Early Christian Theology of Arithmetic: Number Symbolism in the Late Second and Early Third Century - bestätigt: "εννεαγραμμον and its cognates mean merely "nine letters," generally used to refer to a word consisting of nine letters. No diagrams are implied." (per e-mail im Oktober 2011)
Ob das Wort enneagramm mit der geometrischen Bedeutung eines Neunsterns in der byzantinischen (8./9. Jh. bis 1453) oder in der neugriechischen Zeit (nach dem Fall Konstantinopels in 1453) entstanden ist, habe ich nicht geprüft. Mir ging es nur um den Nachweis, dass das Wort enneagramm bei den alten Griechen nicht zu finden ist und nichts mit Pythagoras zu tun hat. Solange niemand die Prüfung für die byzantinische und neugriechische Zeit vollzogen hat, gilt Bartels' Aussage: "Auch der Name »Enneagramm« lässt sich nicht vor 1916 belegen." (Bartels 2005: 16)
Anmerkung: pentagramma wird sechs Mal und pentagrammon wird drei Mal erwähnt. pentagramma meint in einer Quelle den Namen einer Stadt in der Nähe des Indus.
In den übrigen fünf Quellen taucht der Begriff in einer bestimmten Redewendung auf, die wohl von Sophokles stammt (fr. 429 [Radt]). Diese Redewendung meint laut Dr. Trachsel "ein Spiel (pessa) und das Brett (pentagramma), auf dem es gespielt wird. Nach Antiken Berichten waren die Steine, mit denen man spielte, auf fünf Reihen gelegt worden. Daher der Name Pentagramma." pentagrammon meint in einer Quelle "ein Wort mit 5 Buchstaben" und in den anderen beiden Quellen wird damit auf den gleichmäßigen Fünfstern des Pythagoras verwiesen.
"Daß das Pentagramm Erkennungszeichen der Pythagoreer war, gilt wohl mit Recht als gute Überlieferung; auch das Dodekaeder scheint eine besondere Rolle gespielt zu haben." (Burkert 1962: 443) Allerdings ist das Pentagramm eine "Figur, der man seit ältesten Zeiten geheimnisvolle Macht und Bedeutung zuschrieb." (ebd.: 160; Burkert ergänzt in der Anmerkung 82a mit Bezug auf verschiedene Quellen: "das Pentagramm ist als magisches Zeichen ungemein weit verbreitet, bereits im Alten Orient") Und schließlich: "Sternfünfeck - »Pentagramm« - und Dodekaeder spielen eine Rolle bei den Pythagoreern, doch waren beide Figuren rein empirisch seit Jahrhunderten bekannt, und ob die Pythagoreer von Anfang an eine mathematische Konstruktion des Fünfecks kannten, ist die Frage." (ebd.: 429; Burkert ergänzt in Anmerkung 41: "Daß die magische Wirkung des Pentagramms nicht von mathematisch exakter Konstruktion abhängt, zeigt die oft ganz unregelmäßige Ausführung, ...") Zhmud verweist in einer Anmerkung auf einen Artikel von R. Fallus (1982/84) zum Pentagramm und kommentiert: "Das Material dieses Aufsatzes zeigt, daß das Pentagramm kaum je ein pythagoreisches Symbol gewesen sein dürfte." (Zhmud 1997: 64 Anm. 30)
Allein in diesem letzten Absatz zeigen sich bereits die Schwierigkeiten der Pythagoras-Forschung.
Die Forschung zur Person Pythagoras und seiner Lehre leidet darunter, dass sie nicht auf Originalquellen zugreifen kann, weil "es keine Schrift des Pythagoras gab" (Burkert 1962: 68; vgl. auch Zhmud 1997: 14 sowie Zhmud 2005: 136), sondern Äußerungen anderer Personen eingeschätzt werden müssen. Zur Schwierigkeit der Quellenlage bzw. der Quellen-Einschätzung siehe Burkert (1962: Einleitung, und z.B. 68ff, 86ff, 278-301 [Kapitel "Weltmodell und Planetenordnung"], 441-456 [Kapitel "Zahl und Kosmos"]) sowie Burkert ([1982]/ 2006: 205f). Weitere Gesichtspunkte zur problematischen Quellenlage finden sich in den Überlegungen zur pythagoreischen Frage von Leonid Zhmud (2005: 135-151) als auch bei Zhmud (1997: Einführung, Teil I). Hier ausgewählte Zitate: "Im Unterschied zu den Sokratesschülern haben jedoch weder die unmittelbaren Schüler des Pythagoras noch seine Nachfolger über seine Lehre etwas hinterlassen. Soweit uns die Schriften der historischen Pythagoreer bekannt sind, wird Pythagoras von ihnen überhaupt nicht erwähnt; es gibt auch keine Spuren von einem Buch über ihn, das in seiner Schule verfasst wurde" (Zhmud 2005: 140) "Die eigenen Ansichten der frühen Pythagoreer bieten ebenfalls keinen leichten Zugang, und zwar schon deshalb nicht, weil sich bis heute nicht klar bestimmen lässt, wer ihnen zuzurechnen ist und wer nicht." (ebd.: 141)
Schließlich wird von beiden Autoren Eduard Zeller (1814 bis 1908) zitiert: "»So weiß uns also die Überlieferung über den Pythagoreismus und seinen Stifter um so mehr zu sagen, je weiter sie der Zeit nach von diesen Erscheinungen abliegt ...«" (Burkert 1962: 2) "Schon Zeller hat erkannt, daß mit der zeitlichen Entfernung zu Pythagoras die Menge der Quellen zwar wächst, ihre Glaubwürdigkeit aber in gleichem Maß abnimmt." (Zhmud 1997: 27)
"Die Bibliographie der Arbeiten über den Pythagoreismus umfaßt Hunderte von Aufsätzen und Büchern,2 und es fällt schwer, einen Sachverhalt zu finden über den sich alle einig sind; selbst die historische Existenz des Pythagoras ist nicht unumstritten.3 Wenn wir uns aber über die reinen Fakten hinaus Fragen der Interpretation zuwenden, so lassen sich die vielfältigen und widersprüchlichen Standpunkte der Forschung kaum mehr übersehen." (Zhmud 1997: 13; in den Anm. 2 und 3 sind entsprechende Literaturhinweise zu finden)
Weiteres zu Pythagoras im nächsten Kapitel zur Symbolherkunft und in der Langversion zur Wissenschaftlichkeit des Enneagramm.
Stand dieses Kapitels ist 2011-10-16.