Lange Fassung - Teil 4
In diesem vierten Teil finden Sie folgende Kapitel:
Enneagramm "Reloaded" ?
Der Unterschied spiritueller und wissenschaftlicher Erkenntnis
Wertschätzend-kritischer Schlusskommentar
Persönliche Anmerkungen
Schlusswörter
Enneagramm "Reloaded" ?
Wie kann die Zukunft des Enneagramm-Modells aussehen ?
Dafür wäre wichtig, das, was dogmatisch und wissenschaftlich nicht belegt ist, für eine Umarbeitung frei zu geben. Ich gehe nicht nochmal im Einzelnen darauf ein, weil diese Webseite bereits genügend Hinweise geliefert hat.
Lieber knüpfe ich an eine von Bartels vorgenommene Unterscheidung an. Es ist wichtig, sauber zu trennen zwischen dem, was dem Bereich Wissenschaft zuzuordnen ist und dem, was in den Bereich Weisheitslehre gehört.
Im Jahr 2011 sollte sich niemand mit dem Wort "Weisheit" schmücken, ohne auf dem Stand der "Wissenschaft" zu sein. Laien mögen weise ohne Wissenschaft sein, weil es für den Durchschnittsmenschen ausreicht, Lebensklugheit und Weisheit ohne Wissenschaft zu erlangen - wäre ja auch schlimm, wenn das nur mit der Wissenschaft möglich wäre. Aber an Personen, die Enneagramm-Bücher veröffentlichen, öffentliche Vorträge halten, mit Seminaren Geld verdienen oder bei Seminaren sogar noch vorgeben, sich auf irgendwelche (wissenschaftlichen) Studien zu beziehen, sind strenge Maßstäbe anzulegen. In Bezug auf das Enneagramm als Persönlichkeits-Modell heißt das, sich mit der Brisanz des Themas "Persönlichkeits-Modelle" (selbst)kritisch zu beschäftigen. Insbesondere wenn ein wesentlicher Inhalt des Modells die selbstkritische Reflexion ist, sollten die Vertreter des Modells dies in vorbildlicher Weise praktizieren: sich und das von ihnen in die Welt getragene Modell kritisch reflektieren.
Vorbildlich in dieser Hinsicht ist der Dalai Lama, der als Religionsführer hohe Verantwortung trägt und dem - auch seitens der Wissenschaft - als Religionsführer ein gewisser Dogmatismus zugestanden würde. Doch ausgerechnet der Dalai Lama ist es, der sich bereits vor Jahrzehnten mit der Gründung des Mind & Life Institute der Wissenschaft öffnete und die Ansicht vertritt, dass eine Religion von der Wissenschaft dazu lernen müsse und nicht in einem Jahrhunderte oder Jahrtausende währenden Dogmatismus verharren darf:
"Was zum Beispiel die Funktionsweise des Geistes angeht, hat der Buddhismus eine jahrhundertealte innere Wissenschaft, die für Forscher in der Kognitions- und Neurowissenschaft und das Studium der Emotionen von praktischer Bedeutung war und zu deren Verständnis erheblich beigetragen hat. Mehrere Wissenschaftler haben aus unseren Diskussionen neue Ideen für die Forschung auf ihren Fachgebieten mitgenommen. Aber der Buddhismus kann auch von der Wissenschaft lernen. Ich habe oft gesagt, daß, wenn die Wissenschaft Tatsachen beweist, die mit dem buddhistischen Verständnis unvereinbar sind, der Buddhismus dem Rechnung zu tragen hat. Wir sollten uns immer eine Ansicht zu eigen machen, die mit den Tatsachen im Einklang steht. Wenn unsere Untersuchung ergibt, daß es Gründe und Beweise für eine Auffassung gibt, sollten wir diese akzeptieren. Es muß jedoch klar unterschieden werden zwischen dem, was die Wissenschaft nicht gefunden hat, und dem, was die Wissenschaft als nichtexistent befunden hat. Was die Wissenschaft als nichtexistent befindet, sollten wir alle als nichtexistent akzeptieren; etwas ganz anderes ist aber, was die Wissenschaft lediglich nicht gefunden hat. Ein Beispiel ist das Bewußtsein als solches. Obwohl fühlende Wesen, darunter der Mensch, seit Jahrhunderten Erfahrungen mit dem Bewußtsein machen, wissen wir noch immer nicht, was Bewußtsein wirklich ist, wie es funktioniert oder was seine vollständige Natur ist." (Dalai Lama 2003: 11f)
Diese Äußerung zeugt von dankenswerter Beweglichkeit bei einem Religionsoberhaupt und sie zeigt zugleich eine interessante Wechselbeziehung und Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Religion auf. Die Grenzziehung lädt allerdings jeden Enneagrammer ein, all das weiter zu behaupten, bei dem die Wissenschaft noch nicht die "Nichtexistenz" nachgewiesen hat. Eine Religion ist aber etwas Anderes als das Enneagramm-Modell. Für eine Religion ist diese passive Form der Grenzziehung akzeptabel. An ein Persönlichkeits-Modell, welches im 20. Jhd. entstanden ist, ist ein anderer Maßstab anzulegen. Hier ist jeglicher Dogmatismus unakzeptabel und es macht Sinn, eine aktive Haltung anzunehmen, die sich darin zeigt, das, was dogmatisch ist und wissenschaftlich nicht belegt ist, so umzuarbeiten, dass es wissenschaftlichen Maßstäben entspricht.
Wie kann nun eine Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Weisheitslehre für ein zukunftsfähiges Enneagramm aussehen ?
Betrachten wir die Entwicklungsgeschichte bis zu Gurdjieff, so ist mit dem scharfen wissenschaftlichen Blick von Johannes Bartels und den interessanten Hinweisen von James Webb ein christliches Enneagramm die vielversprechendste Entwicklungsform. Auch wenn das Enneagramm sich nicht direkt aus Kircher, Llull oder gar den Wüstenvätern ableiten lässt, so gibt es gut begründete Hinweise für einen inspirativen Zusammenhang mit Kircher und Llull. Der Zusammenhang ist symbolisch-inspirativ und auf der allgemein-inhaltlichen Ebene einer kosmologischen Betrachtungsweise zu sehen. Wenn die religiösen Enneagrammer mit dem scharfen Blick von Bartels die Arbeiten von Rohr, Ebert, Palmer und anderen filtern, kann das eine gute Grundlage für ein religiöses Modell der Persönlichkeitsentwicklung sein.
Es könnte sich lohnen, die Verbindung zu Rudolf Steiner auszuloten (vgl. Ebert 2008: 280f). Das würde das religiöse Modell womöglich abrunden. Der Anthroposoph Jens Heisterkamp weist 2005 in einem Enneagramm-Artikel auf folgendes hin: "In der - keineswegs selbstverständlichen - Unterscheidung von Seele und Geist liegt eine der Parallelen zwischen der Lehre vom Enneagramm und der Anthroposophie Rudolf Steiners. Eine weitere zeigt sich in der Gliederbarkeit der neun Grundmuster entsprechend den drei grundlegenden Seelenkräften des Denkens (Vorstellens), Fühlens und Wollens - beide Parallelen sind Indizien der bis in antike Mysterientraditionen reichenden Wurzeln von Enneagramm und auch Anthroposophie." Als Gurdjieff 1916 seinen Schülern das Enneagramm in Moskau und Petersburg eröffnete, hat Steiner in einem Vortrag vorausschauend gesagt: "»Da wird es geben diejenigen, die gewisse Anlagen dazu haben, ihre Mitmenschen zu unterrichten darüber, wie die Menschen verschiedene Temperamente haben, wie die Menschen verschiedene Charakteranlagen haben, wie der eine Mensch, der ein solches Temperament hat, so genommen werden muß, wie ein anderer Mensch, der eine solche Charakteranlage hat, mit diesem Temperament wieder anders genommen werden muß; da werden die Menschen, die besonders dafür begabt sind, andere Menschen, die etwas lernen müssen, darinnen unterrichten: Sehet es euch genauer an! Es gibt diesen Menschentyp, es gibt einen anderen Menschentyp, und man muss den einen Menschen so nehmen und den anderen anders nehmen. Praktische Psychologie, praktische Seelenkunde, aber auch praktische Lebenskunde wird getrieben werden, und durch dieses wird sich ergeben ein wirkliches soziales Verständnis der Menschheitsentwicklung.« (Zürich, 10.10. 1916, in GA168)."
Doch empfehle ich, auch bei der Beschäftigung mit Rudolf Steiner nüchterne Skepsis walten zu lassen - neben der Bewunderung, die der Mann zweifelsohne verdient.
Blicken wir auf die psychologische Richtung des Enneagramms, die von Ichazo angestoßen, durch Naranjo sowie seine Schüler/innen und Andere geformt und weiterentwickelt wurde, so stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit. Die psychologische Richtung knüpft nur lose an die zu Gurdjieff führende Entwicklunglinie an und stellt eher eine Neuschöpfung dar, die sich in Konkurrenz mit anderen Persönlichkeitsmodellen im Lichte der Wissenschaft zu bewähren hat. Der psychologisch-spirituelle Zweig des Enneagramms kann es sich nicht erlauben, bei der passiven Form der Grenzziehung im Sinne des Dalai Lama zu verweilen, sondern muss sich der berechtigten Forderung einer kritischen Wissenschaft stellen, die verlangt, dogmatische und wissenschaftlich nicht belegte Inhalte zu überarbeiten. Es ist abzusehen, dass dabei nicht viel übrig bleiben wird.
Außerdem kann ich beim Enneagramm-Modell nicht den Mehrwert gegenüber den umfassenderen und aus der Praxis entwickelten Kommunikations-Modellen von Friedemann Schulz von Thun erkennen. Mit ihm verbinden die meisten womöglich nur sein Vier-Münder-Vier-Ohren-Modell, doch hat er noch zwei weitere Bücher geschrieben. Das Dreier-Pack Miteinander Reden 1-3 ist der Vergleichsmaßstab. Eine wichtige Quelle für sein Persönlichkeits-Modell ist das von Paul Helwig bereits 1951 veröffentlichte "Wertequadrat" (vgl. Helwig 1951: 63-74). Schulz von Thun griff dies erst 38 Jahre später wieder auf (vgl. SvT [1989]/ 2006: 38-55) - er sagt dort einleitend: "... ich möchte es, um es für Vorgänge der zwischenmenschlichen Kommunikation und Persönlichkeitsbildung nutzbar zu machen, auch als Entwicklungsquadrat verstehen. - Mir selbst hat die Begegnung mit diesem Denk- und Werteschema schlagartig geholfen, frühere Holzwege, die wir als Kommunikationstrainer naseweis gegangen waren, klarer als solche zu durchschauen ..." (SvT [1989]/ 2006: 38) In Verbindung mit seinem "Inneren Team" als Modell für situationsgerechte Kommunikation haben wir alles, was wir brauchen. Wer auf Nummer sicher gehen will, nimmt noch die Klärungshilfe von Thomann dazu.
Es sei darauf hingewiesen, dass es auch unter den Enneagrammern Personen gibt, die mit dem Werte- bzw. Entwicklungsquadrat arbeiten und dazu bereits ein umfassendes "Workbook" verfasst haben (Tödter/ Salzwedel/ Werner, 2009). Tödter/Werner machten es bereits 2006 zu einem zentralen "Handwerkszeug", um damit "unter die Profis der Menschenkenner zu gehen." (Tödter/Werner 2006: 20) Ein wissenschaftlicher Beleg für die behaupteten Zusammenhänge fehlt zwar, doch wird der Ansatz auch ohne diese Belege für die eigene Selbstreflexion bereichernd sein.
Ein starkes methodisches Problem in der Praxis des Enneagramms ist das der schlechten Beurteilerübereinstimmung. Der schnellste Ausweg aus dieser Misere ist, dass sich die Enneagramm-Lehrer/innen an das halten, was ihnen der Ethische Kodex ohnehin vorgibt: "Lass zu, dass andere sich selbst entdecken. Das Enneagramm hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschen. Es ist am wirkungsvollsten, wenn wir zulassen, dass andere ihr eigenes Wesensmuster erkennen, anstatt davon auszugehen, dass wir sie besser kennen als sie sich selbst. Sei einfühlsam gegenüber ihren Reaktionen, ihrem sich wandelnden Selbstbild und ihrem Bedürfnis, die neuen Informationen zu verarbeiten." (der Quell-Link funktioniert nicht mehr)
Der Unterschied spiritueller und wissenschaftlicher Erkenntnis
Oben sagte ich, der marketingtechnische Clou des psychologischen Enneagramm-Modells sei, dass es auch psychologischen Laien auf eine schnelle Art und Weise "Menschenkenntnis" verspricht und jeder von uns sich "irgendwie" im psychologischen Enneagramm-Modell finden wird.
Wenn man zusätzlich in einer Gruppe erlebt, dass jede/r sich in dem Modell findet, dann ist die Meinung, das Enneagramm sei wahr, naheliegend. Sich in einem Modell zu finden, ist allerdings ein Erlebnis, welches fast jedes Persönlichkeits-Modell erzeugt. Wenn Seminarleiter/innen an diesem Punkt festhalten und die Teilnehmer/innen damit arbeiten lassen, wird es nur selten dazu kommen, dass Widersprüche und Unzulänglichkeiten eines Modells aufgedeckt werden. Die Teilnehmer/innen sind so sehr mit sich selbst und dem durch das Modell ins Bewusstsein gerufene Thema beschäftigt, dass ein kritischer Blick völlig vernebelt wird. Aufgrund ihrer emotionalen Verwicklung mit dem aufgedeckten Thema hinterlässt das Modell bei den Seminar-Teilnehmer/innen einen tiefen emotionalen Eindruck. Wird das dann mit der vermeintlichen Rationalität des Modells verknüpft, erstrahlt das Modell in vollem Glanz.
Der hier beschriebene Weg ist der Weg der eigenen Erfahrung. Das "Objekt" der Erfahrung ist gleichzeitig das Subjekt, also die eigene Person. Das ist ein typisches Merkmal esoterischer Erkenntniswege. Es geht um das "erkenne dich selbst" durch Selbsterfahrung, wobei es im spirituellen Bereich üblich ist, dass es einen Lehrer/Meister/Guru gibt, der Schüler/innen auf ihrem Weg der Selbsterfahrung anleitet. Diese Gemeinschaft bildet dann eine esoterische Schule.
In der Wissenschaft sind die "Objekte" der Erfahrung in der Regel außerhalb der eigenen Person. Wissenschaftler/innen mögen Selbstversuche machen, doch wird das im Erfolgsfall lediglich als Motivation oder Anlass gesehen, eine Versuchsreihe mit vielen anderen Personen zu starten. Wissenschaftler sind in der Regel Beobachter von außen. Im Gegensatz zum spirituellen Weg ist bei ihnen Beobachter und beobachtetes Objekt nicht die selbe Person.
Der wesentliche Unterschied beider Erkenntniswege liegt in der für Außenstehende möglichen Prüfbarkeit und Wiederholbarkeit des Ergebnisses. Mir begegnete eine Person, die mir sagte, sie hätte durch Selbsterfahrung und durch mehrere Tausend Personen, mit denen sie in Seminaren und Einzelbegegnungen gearbeitet hat, die Bestätigung für die Richtigkeit des Enneagramm-Modells bekommen. So, wie es für uns ganz natürlich sei, den Unterschied zwischen Mann und Frau zu erkennen, so natürlich sei es für sie, bei Menschen ihre enneagrammatische Unterschiedlichkeit zu erkennen. Leider kann die Person diese Behauptung nicht belegen. Sie verbleibt in ihrer subjektiven Bewertung, da sie nichts zu ihrem Vierschritt beobachten-reflektieren-bewerten-schlussfolgern dokumentiert hat. Es ist für den Außenstehenden nicht nachvollziehbar, wie sich die vier Schritte in ihr vollziehen, außer man beobachtet sie in ihren Seminaren oder Einzelbegegnungen und notiert den von ihr vollzogenen Vierschritt sofern er von außen beobachtbar ist und ergänzt die Beobachtung durch Befragung der Person hinsichtlich der Gesichtspunkte, die für den Außenstehenden zunächst als Black-Box erscheinen (reflektieren, bewerten). Im besten Fall äußert sich die Person bei den Typisierungsinterviews und den Podiumsinterviews dazu, doch darf sie das ja eigentlich nicht, weil für den enneagrammatischen Erkenntnisprozess aufgrund des ethischen Kodex ja gerade nicht erlaubt ist, den Befragten die eigene Deutung aufzudrängen, sondern diese selbst erkennen zu lassen. Enneagramm-Lehrer/innen verstoßen bei Typisierungs-interviews in der Regel gegen diesen Grundsatz, weil sie als Fragende das Interview bestimmen und die nachfassenden und vertiefenden Fragen in der Regel die Vermutung/Deutung des Fragenden offen legen. Das heißt, die Deutung des Enneagramm-Lehrers/ der Enneagramm-Lehrerin lässt sich indirekt durch die Deutung der von ihm/ihr verwendeten Fragen nachvollziehen. Das beinhaltet allerdings einen Deutungsschritt durch den diesen Interview-Prozess Beobachtenden. Damit bleibt das Verfahren zu undurchsichtig. Bei den Panel-Befragungen ist die Grundsituation eine andere. In der Regel sitzen auf dem Panel Personen, die bereits im Einzel-Interview eine Typisierung vollzogen haben, so dass es beim Panel eher darum geht, bei Klarheit der Enneagramm-Struktur die Gemeinsamkeiten, die Unterschiede und ggf. die Subtypen der im Panel Sitzenden herauszuarbeiten.
Für den wissenschaftlichen Erkenntnisweg ist die Nachvollziehbarkeit und Prüfbarkeit des verwendeten Vierschritt der Kern - ohne das gäbe es keine Wissenschaft. In der Regel wird dies mit den Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität verknüpft. Der Vierschritt lässt sich nur durch eine Video-Aufnahme nachvollziehbar machen. Bei Neubetrachtung der Video-Aufnahme wird der/die Enneagramm-Lehrer/in mitteilen können, welche Reflexions- und Deutungsprozesse sich in ihr abspielten und gleichzeitig ist überprüfbar, an welchen Stellen alternative Deutungen möglich sind und an welchen Stellen alternative Fragen empfehlenswert gewesen wären. Mir ist kein/e Enneagramm-Lehrer/in bekannt, die dieses transparente Verfahren anwendet. Mir ist lediglich bekannt, dass Interview-Videos von Enneagramm-Auszubildenden verwendet werden, damit mit den Ausbildern die Vorgehensweise beim Interview besprochen werden kann. Es wäre nicht nur zur Selbstüberprüfung und Weiterentwicklung von Enneagramm-Lehrer/innen hilfreich, wenn sie das Verfahren auf sich selbst anwenden, es würde auch gegenüber der zum Zwecke einer Typisierung interviewten Person höchste Transparenz schaffen. Es wäre zudem im eigenen Interesse der Enneagrammer-Lehrer/innen, dass sie Ihren Vierschritt überprüfbar offen legen.
In dem Moment, wo Enneagrammer diesen Weg beschreiten, begeben sie sich aus der Subjektivität des spirituellen Erkenntnisweges heraus und liefern überprüfbare Ergebnisse. Aufgrund der schlechten Beurteilerübereinstimmung ist es darüber hinaus dringend geboten, einen Verfahrensstandard für die sogenannten Typisierungsinterviews und die Panel-Befragung zu entwickeln. Außerdem ist bei den Enneagramm-Lehrer/innen eine kritische Selbstreflexion geboten, die m. E. darin münden sollte, ihre Beurteilerqualitäten von Außenstehenden supervidieren zu lassen. Hier wiederhole ich nochmal das im Kapitel "Enneagramm-Tests" Gesagte:
Zur Objektivierung der Beurteilerübereinstimmung (Interrrater-Reliability) wäre es vielleicht hilfreich, wenn Enneagramm-Lehrer/innen sich von (a) einem Kriminalpsychologen, der als Profiler arbeitet, (b) einem Psychoanalytiker und (c) einem qualitativ forschenden Sozialwissenschaftler supervidieren lassen.
Die drei Personen sollten das Enneagramm-Modell nicht kennen.
Jürgen Gündel stellte in seinem Artikel Forschungsbedarfe zum Enneagramm fest: "Nötige Validierung von Typ 7 und Typ 3", "Nötige Konstruktvalidierung", "Wirksamkeitsstudien" und "Forschung über weitergehende Ableitungen, z. B. die Zentrentheorie". (der Quell-Link funktioniert nicht mehr)
Wertschätzend-kritischer Schlusskommentar
Schuré schrieb als ersten Satz seines Buches im Kapitel "Einführung in die esoterische Lehre": "Das größte Übel unserer Zeit ist, daß Wissenschaft und Religion sich wie zwei feindliche, unversöhnliche Mächte gegenüberstehen." (Schurè [1889]/ 121956: 13) Burkert hat 1962 seine Habilitation zu Pythagoras, Philolaos und Platon Weisheit und Wissenschaft genannt und versucht, die beiden Bereiche mit Blick auf Pythagoras trennscharf herauszuarbeiten. Bartels hat 2003 in seiner Dissertation zum Enneagramm in der religiösen Erwachsenenbildung versucht, eine Wahrnehmungslücke "auf Seiten der Enneagramm-Bewegung hinsichtlich der christlichen Tradition und wissenschaftlicher Reflexion, aber auch auf Seiten der Theologie hinsichtlich eines interessanten Phänomens gegenwärtiger Religionskultur" zu erhellen (S. 7). Und Lendt/ Schwarzlmüller formulierten 2004 im drittletzten Absatz ihrer umfangreichen Diplomarbeit auf Seite 459: "Wissenschaft und Esoterik sind zwei Gebiete, die fast unvereinbar erscheinen. Wir erhoffen uns dennoch eine Annäherung dieser beiden Disziplinen, da die Esoterik durch die Wissenschaft die Möglichkeit zu soliden, überprüfbaren Ergebnissen bekäme, während die Wissenschaft andererseits durch Inhalte der Esoterik neue Denkanstöße erhalten könnte."
Sämtliche Autoren sehen zwei Bereiche, die einander anzunähern oder trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Mir geht es in erster Linie um Klarheit durch trennscharfe Trennung von dem, was am Enneagramm Mythos ist und was wir als Wahrheit erkennen können. Ich stimme nicht mit Schuré überein, wenn er zum Ende seines Buches sagte "Die Wissenschaft muß religiös und die Religion muß wissenschaftlich werden." (Schurè [1889]/ 121956: 451) Ganz im Gegenteil ist beides voneinander zu trennen - und nach der Trennung aufeinander zu beziehen. Der Bezug sieht dann so aus, dass im Sinne des Dalai Lama religiöse Dogmatik durch wissenschaftliche Erkenntnisse korrigiert wird und Wissenschaft anerkennen muss, dass die Mehrheit der Menschen ein religiöses oder andersgeartetes spirituelles Bedürfnis in sich trägt (ein Gesichtspunkt, der übrigens in den üblichen Persönlichkeitstheorien fehlt).
Bei Betrachtung dessen, was in den Bereich der Tatsachen fällt, verschiebt sich die Polarität Religion/Wissenschaft, Weisheit/Wissenschaft, Theologie/Wissenschaft, Esoterik/Wissenschaft zu Nützlichkeit/Wissenschaft. Religion, Weisheit, Theologie und Esoterik haben ihren Sinn in der Nützlichkeit für die Menschen - die Frage nach Wahrheit und Wissenschaftlichkeit ist nachrangig, wenn sie denn überhaupt interessiert. Und heutzutage zeigt sich beim Streit um Persönlichkeitstests genau diese Polarität - ich erinnere an die Worte von Mühlhaus, der viele Jahre mit Hossiep als Wissenschaftler zusammen arbeitete und heute als HR-Berater tätig ist: "»Wissenschaftler haben eben einen wissenschaftlichen Anspruch, Praktiker einen pragmatischen.«" Für ihn hat ein Test sein Ziel erreicht, "wenn am Ende eine Erkenntnis des Teams stehe: »Schau an, wir sind verschieden, und es ist gut, dass wir verschieden sind.«" (Moser 2011: 73) Und Jeanette van Stijn sagt entsprechend nach einem kurzen Nachdenken über Mythos und Wahrheit: "Das Enneagramm funktioniert für mich, und das ist die Hauptsache." (van Stijn 2011: 251)
Für mich steht die Frage nach der Wahrheit in Zusammenhang mit dem Umfeld. Wenn ich nur mein Privatleben betrachte, hat die Nützlichkeit ein höheres Gewicht als die Wissenschaft. So ist es passend, wenn Charles T. Tart berichtet: "Als mir die Eigenart meines Enneagramm-Typs erklärt wurde, war dies einer der aufschlussreichsten Momente meines Lebens. Viele bislang rätselhaften Ereignisse Reaktionen meines Daseins ergaben nun plötzlich einen Sinn. Noch wichtiger war, daß mir der zentrale Bereich klar wurde, in dem meine Einstellung zum Leben unzulänglich war, und mir gangbare Möglichkeiten aufgezeigt wurden, wie ich sie ändern konnte. Ich verstand das Verhalten vieler meiner Freunde, sobald ich sie mit einem Enneagramm-Typ assoziiert hatte; ich konnte effizient mit ihnen umgehen und war ein besserer Freund. Den ersten Einsichten folgte eine jahrelange, dem persönlichen Wachstum dienende Arbeit, die mir die Nützlichkeit des Systems bestätigte." (Tart im Vorwort in: Palmer [1988]/ 1991: 17)
Im Umfeld einer Hochschule steht die Wissenschaftlichkeit im Vordergrund. Claudio Naranjo, Helen Palmer und David Daniels haben es allerdings geschafft, das Enneagramm auch an amerikanischen Hochschulen zu lehren. Bereits in Palmers erstem Buch gibt es einen Anhang zu wissenschaftlichen Arbeiten, doch der letzte Absatz macht die Anfangssituation deutlich: "Unsere Aktivitäten zur Entwicklung von Tests sind insgesamt sehr ermutigend, auch in der Zusammenschau mit denen von Wagner. Die Entwicklung eines zuverlässigen und richtigen Enneagramm-Evaluierungs-Instrumentariums erscheint möglich und notwendig." (Palmer [1988]/ 1991: 484) Weder ich noch Lendt/ Schwarzlmüller haben die amerikanischen Arbeiten rezipiert, doch besteht der Eindruck, dass es bis heute nicht gelungen ist, ein zuverlässiges Evaluierungs-Instrument zu entwickeln. Das von Lendt/ Schwarzlmüller ist womöglich das Fortgeschrittenste auf dem Gebiet, doch wurde es m. E. nicht weiter verfolgt. Es fehlen Folgestudien.
Unternehmen und Organisationen stehen zwischen dem Anspruch an wissenschaftlicher Absicherung eines Instrumentes und dem Bedarf an die nachgewiesene Nützlichkeit eines Instrumentes. Hier entscheidet vermutlich der Anspruch, den das jeweilige Unternehmen/ die jeweilige Organisation bzw. deren HR-Abteilung hat - das Ideal ist hier, wissenschaftlich abgesicherte nützliche Werkzeuge zu verwenden. Ein wissenschaftlich abgesichertes aber nutzloses Instrument ist Zeit- und Geldverschwendung.
Angesichts der auf dieser Webseite dargelegten Faktenlage kommt der Wissen-schaftler in mir zu dem Schluss, dass es unangemessen ist, an einer Hochschule das Enneagramm zu lehren. Allerdings ist aufgrund der inzwischen an Hochschulen verfassten Vielzahl von Arbeiten eine Meta-Studie empfehlenswert, die diese noch übersichtliche Quellenzahl sichtet und auf ihre wissenschaftliche Substanz hin untersucht. Dabei sind die jeweils verwendete wissenschaftliche Methodik, die Probandenzahl und Probandenart (naive Versuchsperson oder enneagrammkundige Versuchsperson) vermutlich die wesentlichen Beurteilungskriterien.
Der Pragmatiker in mir sieht den positiven Ansatz, Menschen ein Werkzeug an die Hand zu geben, welches zur Selbsterkenntnis beitragen soll. Wenn ich zudem einige Menschen kenne, die mir beteuern, die Auseinandersetzung mit dem Enneagramm habe ihnen genützt und ich noch keinen Menschen getroffen habe, der mir sagte, das Enneagramm hätte Schaden angerichtet, sehe ich ein positives Potential im Enneagramm-Modell oder besser: in der Vielfalt der heute existierenden Enneagramm-Modelle. Schließlich sind diese Nützlichkeits-Bekundungen ein weiterer Grund, sich wissenschaftlich in Form der oben skizzierten Meta-Studie mit dem Enneagramm zu befassen.
Unternehmen und Organisationen sind in erster Linie an Nützlichkeit interessiert. Wenn die Wissenschaft die Richtigkeit eines nützlichen Modells noch nicht beweisen kann, so zeigt das aus unternehmerischer Sicht eher die Schwerfälligkeit der Wissenschaft als die Falschheit des betrachteten Modells. Aufgrund des dem Enneagramm-Modell zu Grunde liegenden Dogmatismus, wäre dies allerdings eine Fehleinschätzung. Personalverantwortliche tragen "Verantwortung" für das Personal und das Unternehmen/ die Verwaltung/ die Organisation. In Bezug auf das Enneagramm zeigt sich die Verantwortung darin, Seminaranbieter mit dem auf dieser Webseite Geschilderten zu konfrontieren. Prüfen Sie, auf welcher Grundlage die Seminaranbieter ihr Angebot machen und ob sie zum dogmatischen Teil der Enneagramm-Gemeinde gehören. Enneagrammer, die meinen, das Enneagramm sei der Menschenkenntnis Weisheit letzter Schluss, würde ich als Personalverantwortlicher meiden - auch wenn sie noch so nett daher kommen. Bedenken Sie die oben geschilderte schlechte Beurteilerübereinstimmung von sogenannten Enneagramm-Experten !
Das Enneagramm ist lediglich als kreativ-anregende Beigabe zu verantworten.
Das Enneagramm-Modell passt auf geschickte Weise zu einer religiös-spirituellen Sehnsucht, die viele Menschen in sich tragen. Bartels formuliert es in der "Schlussbemerkung" seiner Dissertation auf folgende Weise: "Das Enneagramm liefert alles, was ein marktgerechtes Selbsterfahrungssemiar braucht: eine eingängige Aufbereitung psychologischer und religiöser Inhalte, eine erlebnisorientierte Anwendungspraxis und einen gewissen esoterischen Zauber." (Bartels 2005: 291) Gerade deshalb sieht er in dem Enneagramm eine gute Möglichkeit für die Kirche, "die hochmotivierte Zielgruppe der Suchenden, die ihr Leben bewusst vertiefen möchten und die zugleich dazu tendieren, der als langweilig und erstarrt erlebten »Volkskirche« den Rücken zu kehren", wirksam anzusprechen. (ebd.)
Den vielversprechendsten Ansatz im Sinne einer kreativ-anregenden Beigabe sehe ich in der Kombination mit dem "Wertequadrat" von Paul Helwig (1951), welches Schulz von Thun passend als "Entwicklungsquadrat" (1989) bezeichnet hat. Bei dem neuesten mir bekannten Enneagramm-Buch von Salzwedel/ Tödter (2008) ist ernst zu nehmen, dass die Autoren mit vielen der am deutschen Markt üblichen Persönlichkeitsmodelle bereits gearbeitet haben, für einige sogar eine Lehr-Akkreditierung besitzen und sich aufgrund langjähriger Erfahrung "schwerpunktmäßig für den Einsatz des Enneagramms in ihren Führungskräftetrainings entschieden" haben, "weil es folgende drei Leistungen miteinander kombiniert:
1. Es erfasst auf eindrückliche Art neben Verhaltensphänomenen auch die tiefer liegenden Grundmotivationen, die Verhalten steuern; es erklärt also, warum wir in vielen Situationen so und nicht anders handeln;
2. es beantwortet nicht nur die Frage nach dem Persönlichkeitstyp, sondern beinhaltet eine dynamische Komponente, die für jedes Persönlichkeitsprofil deutlich die Potenziale für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung, aber auch die Risiken in Form von Stressspiralen aufzeigt; für die Entwicklungsrichtung ist besonders auffällig, dass genau jene Dinge zu entwickeln sind, die auch ein wenig schwerfallen; es sind immer jene Potenziale, die ein Gegengewicht zum eigenen Grundtyp bilden;
3. es erweitert die bipolare Stärken-/Schwächen-Sichtweise auf den Dreiklang Stärken, Nicht-Stärken und Schwächen; es differenziert ausdrücklich zwischen angelegten Talenten und »Nicht-Angelegtem«, das es im Rahmen des Möglichen zu entwickeln gilt; und es versteht unter Schwächen die Übertreibung der Stärken, die sich in ihr Gegenteil verkehren.
[...]
Es baut als Modell auf der Annahme auf, dass es für das psychische Überleben des Menschen drei zentrale Motive gibt, die nach Erfüllung streben: Autonomie, Anerkennung und Sicherheit. Es geht weiterhin davon aus, dass bei jedem Menschen ein zentrales Motiv nachhaltig unterversorgt war bzw. ist, was zur Ausprägung von ganz spezifischen Verhaltensmustern oder Gewohnheiten geführt hat, die dieses Defizit beheben sollen." (Salzwedel/ Tödter 2008: 49f)
Dagegen lässt sich sagen:
A. Ein Modell, welches - unterstützt durch die Psychologie der Human Potential Bewegung (vgl. Reifarth 2009: 25) - auf intelligente Weise Sehnsüchte von Menschen anspricht und diese zu befriedigen verspricht, mag behaupten, die "tiefer liegenden Grundmotivationen, die Verhalten steuern" zu erkennen, doch wäre es seltsam, wenn ein dogmatisches Modell mehr erkennen könnte als unzählige Wissenschaftler, die sich seit Jahrzehnten am Thema "Motivation" die Zähne ausbeißen.
B. Ebenso seltsam und dogmatisch erscheint es, dass Stress- und Entspannungsverhalten von einer mathematischen Operation abgeleitet werden (die Zahlen 1 bis 6 jeweils durch 7 teilen und die in wechselnder Reihenfolge auftauchende Ziffernfolge 142857 als Verhaltensorakel betrachten und für das Stress- und Entspannungsverhalten der Muster 3, 6 und 9 dann eine andere Erklärungen anführen [was bereits innerhalb dieses dogmatischen Modells fragwürdig erscheint]).
C. Dass Menschen "Nicht-Stärken ... im Rahmen des Möglichen " zu Stärken entwickeln können, ist sicher keine Entdeckung der Enneagramm-Autoren, sondern ein alter Hut, der sich im Sprichwort "Übung macht den Meister" ausdrückt. Und selbst bei Menschen, die mit ihren Stärken arbeiten, gilt womöglich der Satz "Genie ist 99 Prozent Transpiration und 1 Prozent Inspiration" (anekdotisch sei dazu zitiert: "Als Thomas Alva Edison mit 84 Jahren starb, hatte er siebzig Jahre lang geschafft. Zusätzlich hatte er ein Team von Ingenieuren und Wissenschaftlern auf das plamäßige Experimentieren und Durchprobieren angesetzt, mit dem Auftrag, »alle zehn Tage eine kleine Sache, alle sechs Monate ein großes Ding zu erfinden«; 6000 Versuche stellten sie an, bis sie den richtigen Glühfaden für die Glühbirne gefunden hatten; 1033 Erfindungen bekam Edison patentiert. »Genie ist 99 Prozent Transpiration und 1 Prozent Inspiration«, dieser Satz wird ihm zugeschrieben. (Wobei er mit einem Prozent mehr an Inspiration vielleicht den Irrtum vermieden hätte, noch fünf Jahre nach den ersten Rundfunksendungen das Radio für eine Erfindung ohne Zukunft zu halten.)" (Schneider 1992: 170)
D. Es mag richtig sein, dass "Autonomie, Anerkennung und Sicherheit" drei wichtige Bedürfnisse sind, doch ob es die zentralen Menschheitsbedürfnisse sind, oder ob noch weitere dazu gehören, oder ob es Menschen gibt, die für sich eine andere Top-3-Wahl treffen würden, ist offen (die Autoren sagen ja auch einleitend "Es baut als Modell auf der Annahme auf ..."). Aus einer Annahme dann ein Modell abzuleiten, welches 27 Muster zur Folge hat, die nicht mehr im Sinne einer Annahme sondern als Tatsache formuliert werden, ist sehr gewagt.
Also: Warum Enneagramm, wenn das 1951 von Paul Helwig ([1936]/ 21951: 63-74) eingeführte Wertequadrat bereits als Entwicklungsquadrat mit dem Modell des Inneren Teams von Friedemann Schulz von Thun verwendet wird ([1998]/ 2006: 107ff, 117f, 151ff, 177f, 197f, 220, 236f) und der Verweis auf Stärkenorientierung bereits seit Peter Ferdinand Drucker ein alter Hut ist ? (vgl. [1954]/ 1956/ 61969: 319f, 360ff sowie [1966]/ 1993: 115-155 [Kapitel "Kräfte produktiv gestalten"])
Wer dann noch die beiden Bände Pädagogische Anthropologie (1966 und 1971) des Reformpädagogen Heinrich Roth und das Kapitel "Die Natur des Menschen und sein Charakter" in Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie (1947: 45-112) von Erich Fromm liest, hat alles, was er/sie für die Personalentwicklung in Unternehmen, Verwaltungen und Organisationen braucht.
Oben auf dieser Webseite sagte ich "Gurdjieff vermochte es, Menschen glauben zu machen, er würde etwas ganz Besonderes verkünden und ihnen einen Weg zu ihrem wahren Wesenskern aufzeigen." Genau das tun auch die heutigen Enneagrammer mit der "Story", die das Enneagramm legendenhaft umweht. Besonders interessant wird es, wenn Enneagramm-Lehrer/innen sagen, ein Urteil über das Enneagramm könne man sich erst bilden, wenn man sich auf das Enneagramm als Suchender bei einem/einer Enneagramm-Lehrer/innen eingelassen hat. Das ist zweifellos ein sehr gutes Marketing-Argument, aber genau das gehört zum Mythos. Die Wahrheit ist, dass eine Urteilsbildung über das Enneagramm-Modell möglich ist anhand (a) der Analyse des Konstruktes, (b) der Erkenntnisse zur Beurteilerübereinstimmung und (c) des Widerspruches, dass die Enneagrammer einen ethischen Kodex haben, der darin besteht, dass Menschen ihren Typ selber finden sollen, sie aber in einem solchen Ausmaß ihren eigenen Kodex verfehlen, dass Ebert in 2008 noch immer darauf hinweisen muss.
Eine zusätzliche Attraktivität des Modells ist, dass das Symbol einen mathematischen Hintergrund hat und das Symbol damit eine gewisse Ordnung ausstrahlt. Viele Menschen sehnen sich nach Ordnung nicht nur in ihrer eigenen Seele, sondern auch im Durchschauen von anderen Menschen und in der zwischen-menschlichen Kommunikation. Wenn Menschen diese Sehnsucht (hinter der eigentlich Bedürfnisse nach Sicherheit und/oder Macht stehen) mit dem Enneagramm befriedigen können, ist das für sie persönlich schön. Wenn allerdings Menschen, die in Hierarchie-Beziehungen mit anderen Menschen stehen, eine Missbrauchs-Möglichkeit in Form anmaßender Deutungshoheit gegeben wird, so ist das allein Grund genug, das Modell aus der Personalführung fern zu halten.
Dieser letzte Einwand richtet sich allerdings gegen jede Form von Persönlichkeits-typologien. Für gute Führung ist die Kenntnis von Persönlichkeitstypologien unbedeutend.
Auf der vorigen Kernversions-Seite zitierte ich im Zusammenhang mit dem Forer-Experiment Frau Gallen, die darauf hinwies, dass "unser Bedürfnis, jemand bestimmter zu sein, sehr viel größer [sei], als uns nicht festlegen zu können. Nicht zu wissen, wer wir sind, verunsichert sehr ! Die Vorstellung, kein geformtes Ich oder keine Identität zu haben, macht uns Angst. Durch Identifikation mit einer Typen-Beschreibung können wir dieser Verunsicherung entgegen wirken." (Gallen 2010: 4) Wir können der Verunsicherung aber auch ganz einfach dadurch entgegen wirken, dass wir die Vorstellung einer Identität als Illusion erkennen. Was ist daran so schlimm, wenn es keine erkennbare "Identität" gibt ? Die Geschäftsgrundlage vieler Persönlichkeitstrainer wäre zerstört, wenn die Nicht-Existenz des "Ich" allgemeine Erkenntnis wäre. Der größte Teil des esoterischen Marktes lebt davon, dass Menschen an die Existenz eines "Ego" (das es zu überwinden oder zu zerstören gilt) glauben. Ganz absonderlich wird es, wenn irgendwelche "Meister" verkünden, die Erleuchtung bestünde darin, zu erkennen, dass es kein Ego gibt.
Bitte sehr, das habe ich hiermit erkannt. Ich würde mich aber deshalb nicht als erleuchtet bezeichnen, weil "Erleuchtung" ein spiritueller Marketing-Gag ist. Es kommt einzig darauf an, die Dinge, die wir tun, mit Aufmerksamkeit zu tun. Das ist einfach und schwer zugleich.
Mutig ist, wer seine Angst kennt und sie überwindet. Das heißt, es macht auf jeden Fall Sinn, sich mit seinen Ängsten zu beschäftigen. Es ist aber m. E. vergeudete Zeit, nach der eigenen "Identität" zu suchen. Es braucht Mut, den Wunsch nach eigener Identität loslassen zu können.
Es gibt Momente im Leben, wo wir spüren "Das bin nicht ich" oder "Das entspricht mir nicht". Es ist gut, wenn wir diese Feinfühligkeit, diesen Kontakt zu uns haben (viele Menschen haben diese Feinfühligkeit verloren, oder drücken sie weg). Dieser Kontakt reicht - mehr braucht es nicht. Diese Feinfühligkeit und Beobachtungsfähigkeit reicht, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Wer oder was das "Ich" ist, mit dem ich gerade nicht im Reinen bin, ist unerheblich und müßig. Entscheidend ist, dass ich dann eine Entscheidung treffe und eine Handlung ausführe, die mir das Gefühl vermittelt, mit mir wieder im Reinen zu sein.
Wem diese Feinfühligkeit stets gegenwärtig ist, spürt, ob sie/er sich in Situationen "stimmig" verhält, oder nicht. Es geht also nicht um ein "Ich" oder eine "Identität", sondern darum, die Feinfühligkeit für die Situationen, in denen ich mit anderen Menschen bin, zu bewahren, um "in Kontakt" mit den Anderen zu sein.
Einen gesunden Kontakt zu mir habe ich nur, wenn ich in Kontakt mit anderen Menschen bin (eine Ausnahme mögen Erimiten sein, denen der Kontakt zur Natur reicht). Im aufmerksamen Kontakt mit anderen Menschen kann ich Entscheidungen treffen und so handeln, dass selten das Gefühl entsteht "Das bin nicht ich".
Wenn sich dies mit der Entwicklung eines inneren Beobachters verbindet, der laut Reifarth "in verschiedenen spirituellen Traditionen" Voraussetzung für die Überwindung automatischer und zwanghafter Reaktionsweisen ist (vgl. Reifarth 2009: 28), so ließe sich hier auch eine sinnvolle Brücke zum impartial spectator von Adam Smith zu schlagen, doch ist das ein neues Thema.
Auch wenn aus wissenschaftlicher Sicht das Enneagramm-Modell m. E. unakzeptabel ist, so macht es trotzdem Sinn, das, was nützlich sein könnte, zu würdigen. Die Nützlichkeit sehe ich darin, dass das Enneagramm uns darauf hinweist, bei dem Vierschritt beobachten-reflektieren-bewerten-schlussfolgern bereits eine Trübung in der Linse unserer Beobachtung zu haben: "Nach Tad Dunne ist das Ich-Bewußtsein durch einen verfälschten, d. h. unangemessenen Realitätssinn charakterisiert, mit anderen Worten, es handelt sich um eine nicht der Realität entsprechenden Auffassung dessen, was »erfülltes Leben« bedeutet. ... eine bestimmte Sichtweise dessen ..., was man unter Erfüllung des Lebens versteht, ähnlich einer »Speziallinse«." (Beesing/ Nogosek/ O'Leary [1984]/ 1992: 111, eigene Hervorhebung)
Genau dies finden wir in der Wissenschaft wieder. Wissenschaft ist keine ganzheitliche Weltbetrachtung mehr, sondern eingeteilt in Spezialbereiche, in denen Spezialisten als sogenannte Experten arbeiten, die ggf. für die Politik Experten-Gutachten erstellen. Da wir zu Genüge erlebt haben, dass die sogenannten "Experten" der Wissenschaft zu unterschiedlichen, wenn nicht sogar gegensätzlichen Ergebnissen kommen, stellt sich die Frage, wie glaubwürdig die Wissenschaft als Institution für Wahrheit und Falschheit ist. Man könnte gelegentlich geneigt sein, Wissenschaftler als moderne Narren zu betrachten. So sagte Friedrich Nick bereits 1861: "..., allein ich versichere, daß keine possierlicheren Narren in der Welt sind, als die gelehrten Narren, welche nicht gestehen wollen, daß sie Narren sind, sondern ihre Thorheit mit der Grammatik und Logik vertheidigen.* Der gleichen Ansicht muß Carl Ludwig, Churfürst von der Pfalz gehuldigt haben, denn als ihn einst Jemand fragte, warum er keinen Hofnarren halte, gab er zur Antwort: »wenn ich lachen will, so lasse ich ein Paar Professoren auf's Schloß kommen und wacker miteinander disputiren!«" (Anm *: Flögel, Hofn. S. 7, in: Nick 1861:16)
Das heißt, wir haben nicht nur durch die Einteilung in verschiedene Wissenschaftsdisziplinen eine einseitige bzw. ausschnitthafte Betrachtung der Welt und Wirklichkeit, sondern erleben innerhalb der einzelnen Disziplinen Uneinigkeit. Wie kann der Laie dabei die Wissenschaft als Ort anerkennen, der über Wahrheit und Falschheit einer Sache Auskunft gibt ? Die Glaubwürdigkeitsfrage wird allein dadurch aufgelöst, dass wir auf die jeweiligen Voraussetzungen schauen müssen, die den jeweiligen Experten-Gutachten bzw. Experten-Aussagen zu Grunde liegen (wenn wir eine korrekte Anwendung der wissenschaftlichen Methoden in den jeweiligen Fachdisziplinen unterstellen).
Neben den kritischen Gedanken, die einem kommen, wenn man sich mit Wissenschaft und Methoden befasst, sind die berichteten Erfahrungen von Menschen, die mit dem Enneagramm arbeiten nicht vom Tisch zu wischen.
Dieter Draf sprach in der fünften Auflage des Praxis-Handbuch Leiten und Führen in der öffentlichen Verwaltung in einem zweiseitigen Kapitel "Enneagramm - eine hilfreiche Typenlehre auch und gerade für Führungskräfte" eine Empfehlung aus, denn das Modell habe sich "vielfach und über einen längeren Zeitraum bewährt", sowie "Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen und der erfreulichen Reifungsschritte vieler Führungskräfte mit Hilfe des Enneagramms ..." (Draf 51999: 287). Diese Aussagen werden unterstützt durch Wilfried Reifarth, der in einem vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge herausgegebenen Enneagramm-Lernbuch sagt: "... habe ich mehrjährige Anwender-Erfahrungen in Fort- und Weiterbildungen, in Supervisionen, in Team- und Organisationsberatungsprozessen gesammelt. Im Ergebnis betrachtet, haben diese Erfahrungen meine Achtung vor der Erklärungstiefe und Wirkmächtigkeit der Enneagramm-Idee kontinuierlich gesteigert." (Reifarth 1997: 10) Herr Reifarth hat überwiegend mit Menschen aus helfenden Berufen und oft mit Gruppen, "die mehr als dreißig Teilnehmende hatten", gearbeitet (Reifarth 2009: 194). Dabei war er auf der Suche nach Elementen, "deren Beachtung zur verantwortlichen Begleitung eines offenen Großgruppenprozesses erforderlich ist" (Reifarth 2009: 195) und stieß dabei auf Angst, Humor, Liebe, Macht, Ordnung und Zeit, woraus er das AHLMOZ-Prinzip ableitete, was neben seiner Bezugnahme auf Martin Buber m. E. eine interessante Verbindung für den Umgang mit dem Enneagramm darstellt.
Ebenso interessant finde ich den Zusammenhang, den Reifarth aufgrund seiner knapp zehnjährigen Tätigkeit "mit Menschen, die dem Alkohol und anderen todbringenden Suchtmitteln verfallen waren und einen Weg aus der Hölle gefunden hatten" (Reifarth 2009: 155) mit dem Enneagramm herstellt (vgl. Reifarth 2009: 155-171). "Aus Erfahrung weiß ich, dass suchtkranke Menschen, die mithilfe der 12 Schritte [der Anonymen Alkoholiker, G.E.] genesen sind diesen Prozess nachhaltiger gestalten und tiefer verankern konnten, wenn sie ihr Ennea-Muster erkannt und diese Erkenntnisse ebenfalls in ihr nüchternes Leben integrieren konnten." (Reifarth 2009: 169) Auch ist anerkennenswert, wenn Frau Stiels darauf hinweist, "dass sich die Anwendung dieser Theorie vor allem bei Fallkonstellationen bewährt hat, bei denen es seit längerem zu einem Entwicklungsstillstand gekommen war." (der Quell-Link funktioniert nicht mehr) In diesem Zusammenhang sei abschließend Reifarth zitiert: "Einer der größten Stärken der Enneagramm-Idee liegt meiner Erfahrung und Überzeugung nach darin, dass sie quasi notorisch zur Umkehr ermutigt und zu ihr aufruft. Sie beschreibt zwar in schmerzlicher Präzision die Möglichkeiten des Scheiterns und der seelischen Verstrickung bis hin zu dem Punkt, an dem nichts mehr zu gehen scheint. Aber immer auch eröffnet sie den Blick auf die Auswege, auf die Möglichkeit des Wandels und der Veränderung. Und sie tut dies mit der gleichen - bisher nicht gekannten - Präzision und persönlichen Passgenauigkeit." (Reifarth 2009: 189)
Das Enneagramm enthält die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen Motivation und Beobachtung gibt. Das heißt, beim Vierschritt beobachten-reflektieren-bewerten-schlussfolgern sind wir bereits am Ausgangspunkt der Beobachtung durch die Speziallinse unserer jeweiligen Motivationsstruktur beeinflusst. Da uns diese Motivationsstruktur nicht bewusst ist, merken wir das nicht und bilden uns ein, einen "sauberen" Vierschritt zu vollziehen. Unabhängig davon, ob diese Speziallinsen-Annahme wahr oder falsch ist, lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob diese Annahme für den "Kontakt" zu uns und zu den anderen Menschen nützlich sein könnte. Außerdem lohnt es sich - unabhängig von der Speziallinsen-Annahme -, darüber nachzudenken, ob und wie wir tatsächlich den wissenschaftlichen Vierschritt beobachten-reflektieren-bewerten-schlussfolgern gehen, oder ob es in Wirklichkeit der Dreischritt beobachten-bewerten-schlussfolgern ist.
Claudio Naranjo - als Wegbereiter der in die Öffentlichkeit gehenden Enneagramm-Lehrer/innen - scheint mir die Person zu sein, die am ehesten die Verbindung zwischen Gurdjieff und Ichazo herstellt. Er ist ein anerkannter Vertreter des Gurdjieffschen Vierten Weges und sein Schulungsprogramm hat er in Anlehnung an Gurdjieff Seekers After Truth (SAT) genannt ("This programme became known as SAT (Seekers After Truth) and it consisted of the Gestalt therapy, the Enneagram of Personality teachings, meditation, music and theatre as therapeutic resources and guided self-insight."). Außerdem spricht er anscheinend nicht mehr von einem 9er-System, sondern gibt den Sub-Typen einen so hohen Stellenwert, dass er jetzt von "27 characters in search of being" spricht.
Diese Webseite erhebt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mit der Einschränkung, dabei einseitig eine kritische Haltung einzunehmen. Die Motivation ist zwar, zwischen Mythos und Wahrheit zu unterscheiden, doch ist klar, dass die Webseite lediglich Wahrheitsanteile zum Vorschein gebracht hat. Diese Anteile haben nach meiner Einschätzung allerdings ein solches Gewicht, dass sie eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung liefern, ob das Enneagramm an Hochschulen gelehrt oder in der Personalführung zum Einsatz kommen sollte.
Persönliche Anmerkungen
Es würde mich freuen, wenn Sie, sehr geehrte Leser/innen, den Eindruck gewonnen haben, dass es mir nicht darum geht, vor dem Enneagramm zu warnen, sondern um die Klärung von Mythos und Wahrheit.
Allerdings warne ich vor Enneagrammern, die meinen, sie würden Kenntnis der Kernmotivation eines anderen Menschen haben. Da dies zum Enneagramm-Modell gehört, warne ich an genau dieser Stelle vor dem Enneagramm-Modell und den Menschen, die es in diesem Sinne mit dem Anspruch auf Deutungshoheit nutzen. Auf der Startseite von www.motivatoren.de erwähnte ich eine Kritik von Peter Ferdinand Drucker, der vor mehreren Jahrzehnten auf einem Symposium der American Psychological Association gegenüber Herzbergs Vorhaben, die Arbeitsmotivation von Mitarbeitern zu erforschen, einwandte, dass dies niemanden etwas angehe. Das sei eine Privatangelegenheit und diese Art Forschung sei deshalb unmoralisch und ungerechtfertigt. Völlig abwegig ist es, unter Nutzung eines dogmatischen Persönlichkeits-Modells zu meinen, Kenntnis über die Motivation(en) anderer Menschen zu besitzen.
Auch warne ich vor Menschen, die meinen, beurteilen zu können, auf welcher Bewusstseinsstufe ein anderer Mensch steht. Mit Erschrecken habe ich unter Enneagrammern beobachten können, dass Theorien aufgegriffen werden, die Menschen unterschiedlichen Bewusstseinsstufen zuordnen. Die Deutungshoheit über die eigene Person liegt bei der jeweiligen Person. Erst wenn ein Mensch sich selbst als krank erlebt, oder zu einer Gefahr für andere Menschen wird, ist das Urteil anderer Menschen bedeutsam und wichtig.
In diesem Sinne ist mit Wachsamkeit zu beobachten, was sich aus den Arbeiten des amerikanischen Psychologen Clare W. Graves entwickelt. Wer sich für Spiral Dynamics interessiert, sollte nicht zuerst Ken Wilber lesen, sondern erstmal bei der Quelle The Emergent Cyclical Levels of Existence Theory beginnen. Eine solche Quelle stellen zwei Artikel dar, die im selben Jahr veröffentlicht wurden, in dem Herzberg/ Mausner/ Snyderman The motivation to work veröffentlichten - 1959 veröffentlichte Graves den Artikel An emergent theory of ethical behavior und zusammen mit Madden & Madden den Artikel The congruent management strategy. Doch das ist ein anderes Thema. Ich erwähne es nur, weil sich unter dem Stichwort Spiral Dynamics eine "Szene" entwickelt, die mit dem Original nur noch punktuell etwas gemein hat.
Einer der schlichtesten und vorausschauendsten Beobachter des letzten Jahrhunderts war für mich Peter Ferdinand Drucker. Wer sich Gedanken über Führen und Leiten macht, sollte vor allem ihn lesen. Entsprechend dem im Management gebräuchlichen 80:20-Prinzip behaupte ich, dass 80% sämtlicher Managementliteratur durch sein Buch The effective executive (Die ideale Führungskraft) ersetzt werden kann. Für die restlichen Probleme des Managements mögen die verbliebenen 20% Managementliteratur reichen.
Zusätzlich könnte es Sinn machen, in das Buch zu schauen, welches der Gründer des Otto-Versandes, Werner Otto, 1983 seinen Mitarbeitern und seinem Sohn Michael widmete, Die Otto-Gruppe. Der Weg zum Großunternehmen. Darin nennt er seine 12 Unternehmensprinzipien (Otto 1983: 13):
1. Erkenne dich selbst
2. Sich freiarbeiten
3. Diskutiere und informiere
4. Vereinfache die Probleme
5. Systematisiere und erhalte so der Firma wertvolles Know-how
6. Übe konstruktive Kritik durch Mängelanalyse
7. Handle konsequent
8. Vorsicht vor versteckten Risiken
9. Halte alles im Fluß
10. Teile und wachse
11. Intelligenz ersetzt nicht Erfahrung
12. Behalte Überblick und Weitblick
Das erste Prinzip hat er mit Schwächen und Stärken verbunden (Otto 1983: 13f):
"Erkenne deine Fehler! Versuche, deinen Fehlern, also dir selbst, ins Gesicht zu sehen!
Wir können uns nur in der Leistung steigern, wenn wir uns gründlich mit unseren Schwächen auseinandersetzen. Tüchtige, aktive Menschen machen die meisten Fehler; aber sie unterscheiden sich von den unfähigen dadurch, daß sie sich mit ihren Fehlern auseinandersetzen. Sie wandeln sie in Erfahrung um. Sie holen aus dem entstandenen Schaden wenigstens das Positive, das Erfahrungsgut für sich heraus. Nur wer Wissen sammelt, kann sein Können steigern.
Manche Menschen haben panische Angst, sich selbst erkennen zu wollen; ihr Selbstbewußtsein ist so schwach entwickelt, daß sie bei jedem Fehler eine Gegenposition beziehen. Sie wollen eigenes Versagen nicht wahrhaben, weil sie glauben, dann nicht mehr vor sich selbst bestehen zu können. Damit ist ihnen der Aufstieg verwehrt. Nut wer sich selbst an die Stirn klopfen und zu sich sagen kann: Wie war es möglich, daß mir dieser Fehler passiert ist ? wird weiser. Wer es erreicht, durch Beobachtung das Fehlermaß bei seinen Handlungen zu reduzieren, ist erfolgreich. Harte Selbsterziehung und eine Portion Selbstironie sind für den Erfolg wichtig; Selbstzufriedenheit löst keinen Fortschrittswillen aus.
Erkenne dich selbst - das bedeutet auch, die eigene Begabung und die eigenen Stärken zu erkennen.
Wieviel ungenutzte Talente mag es geben! Nicht etwa, weil der Betreffende keine Chancen hatte. Oft liegt es daran, daß die Gelegenheit fehlte, sich selbst zu erkennen, sich mit anderen zu vergleichen.
Einer meiner fähgisten Mitarbeiter saß als Verwaltungsleiter im OTTO VERSAND. Die Verwaltungskarriere hatte ihm nie Gelegenheit gegeben, seine wahren Fähigkeiten zu erkennen. Ich erinnere mich, daß er wie ein eingesperrter Löwe in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging. Seine Leistung in der Verwaltung war nur durchschnittlich. Aber als er in unserem jungen Grundstücksunternehmen eingesetzt wurde, zeigte sich seine wahre Begabung. Über Nacht wurde er ein Vollblutunternehmer, der mit Elan und klarem Blick für die Realitäten in wenigen Jahren unsere Shopping-Center-Gruppe aufbaute."
Diese Sichtweise ähnelt übrigens der, die Xenophon bereits vor rund 2.400 Jahren in seinen Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) für die Nachwelt schrieb. Sokrates führt dort ein Gespräch mit Euthydemos, der gerne ein Staatslenker werden möchte, und schafft es seinem Gesprächspartner die Leichtfertigkeit seiner Ansichten so vor Augen zu führen, dass dieser am Ende nur noch ermattet sagen kann: "Ich glaube, es ist das beste, wenn ich schweige; denn es scheint, daß ich ganz einfach nichts weiß." (Xenophon [4. Jh. v. Chr.]/ 1960: 140) Es geht in dem Gespräch um die Unterscheidung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und dessen Zusammenhang mit dem Lernen sowie die Unterscheidung von einem Gut und einem Übel und zwischendurch erscheint der Hinweis auf den Tempel von Delphi und den dort zu findenden Spruch gnothi sauton. Sokrates sieht diese Aufforderung im Zusammenhang mit der Suche nach der "eigene[n] Brauchbarkeit für das menschliche Leben", worin wir unseren "Wert oder Unwert" erkennen. (ebd.: 137) Sokrates sagt in diesem Teil Sätze wie: "Wer sich selbst kennt, weiß, was für ihn gut ist, und kann unterscheiden, was er zu leisten vermag und was nicht. [...] Wer hingegen nicht mit bewußter Überlegung handelt, trifft eine falsche Wahl und erleidet Schiffbruch in seinen Unternehmungen." Es geht Sokrates um Klarheit über die eigenen Fähigkeiten.
Als ich anfing, die Webseiten zur Wortherkunft, der Symbolherkunft und der Wissenschaftlichkeit zu schreiben, wusste ich nicht, was ich über das Wort Enneagramm herausfinden würde und wohin ich hinsichtlich meiner Einschätzung des Symboles gelangen würde. Es ist tatsächlich das Ergebnis neugieriger Nachforschungen. Lediglich für dieses Kapitel zur Wissenschaftlichkeit hat sich über die Zeit etwas aufgestaut, was ich nun hier zusammengestellt und zum Großteil neu recherchiert habe. Meine Leidenschaft hat sich darin entfaltet, einen Mythos, der um das Enneagramm aufgebaut wurde, in ein nüchternes Licht zu bringen. Das ist alles. Die wesentliche Leistung in diesem Sinne haben Webb, Bartels sowie Lendt/Schwarzlmüller in den historischen Teilen ihrer Arbeiten erbracht.
Den Beitrag dieser Webseite stelle ich unter das Motto "hart und fair". Sollte ich an irgendeiner Stelle unfair gewesen sein, so tut mir das Leid und ich bitte um Nachricht, welche Textstellen als unfair empfunden werden.
Angesichts der (drögen) Nüchternheit der vorangegangenen Seiten, die im Spannungsfeld von Mythos und Wahrheit nach der Wahrheit suchten, möchte ich zum Ende nicht verschweigen, dass mein Herz bei Campbell ist, als dieser auf die Frage von Bill Moyers "Ist ein Mythos nicht eine Lüge ?" antwortete: "Nein Mythologie ist keine Lüge, die Mythologie ist Poesie, sie ist metaphorisch. Es ist einmal sehr gut so ausgedrückt worden, die Mythologie sei die vorletzte Wahrheit - die vorletzte, weil die letzte nicht in Worte gefaßt werden kann. Sie ist jenseits von Worten, jenseits von Bildern, jenseits jenes Grenzrades des buddhistischen Rades des Werdens. Die Mythologie schleudert den Geist über diesen Rand hinaus in das, was erkannt, aber nicht mitgeteilt werden kann. Daher ist sie die vorletzte Wahrheit. Es ist wichtig, daß man das Geheimnis des Lebens und sein eigenes Geheimnis im Leben erfährt und erkennt. Das verleiht dem Leben eine neue Strahlkraft, eine neue Harmonie, einen neuen Glanz. Mythologisch zu denken, hilft einem, sich mit den Unvermeidlichkeiten dieses Jammertales zu versöhnen. Man lernt die positiven Werte in dem erkennen, was die negativen Momente und Aspekte des eigenen Lebens zu sein scheinen. Die große Frage ist, ob man es fertig bringt, zu seinem Abenteuer ein beherztes Ja zu sagen." (Campbell [1988]/ 1989: 189)
Für mich kommt es darauf an, Wissenschaft und Mythos zu trennen, um dadurch erkennen zu können, wo sich beides mit welcher Begründung zusammenführen lässt - und wo nicht.
Diese Webseite hat Ihnen hoffentlich auch eine gute Grundlage dafür geben können,
ob und wie Sie sich mit dem Enneagramm beschäftigen wollen.
Schlusswörter
Gurdjieff lässt einen alten gebildeten Perser, der "eine gründliche Kenntnis der europäischen Kultur" besaß (G2: 26), sagen: "»Tatsächlich haben viele Zeitgenossen festgestellt, daß bei den Menschen, die auf dem Kontinent Asien leben und wegen geographischer oder anderer Umstände von dem Einfluß der zeitgenössischen Zivilisation nicht berührt werden, das Gefühl auf einer höheren Entwicklung steht als bei europäischen Völkern. Und da das Gefühl die Grundlage des gesunden Menschenverstandes ist, haben diese Menschen, trotz ihrer geringen Allgemeinbildung, eine richtigere Auffassung des Gegenstandes, auf den sich ihre Aufmerksamkeit richtet, als die Elite der modernen Zivilisation. Ein Europäer kann einen Gegenstand nur dann verstehen, wenn er eine vollständige mathematische Information darüber besitzt, während die meisten Asiaten gleichsam das Wesen einer beobachteten Sache erfassen, manchmal allein mit ihrem Gefühl und manchmal sogar nur mit ihrem Instinkt.«" (G2: 26)
Laut Bennett war die Kernfrage Gurdjieffs "»Was ist der Sinn und die Bedeutung des Lebens auf der Erde im allgemeinen und des menschlichen Lebens im besonderen ?«" (Bennett [1973]/ 1976: 8, 196, 275 und ähnlich: 201, 204, 219, 301) Die Antwort finden wir auf den Seiten 200-227 und 253-276. Bennett sah sich mit Gurdjieff in einem gemeinsamen Ziel verbunden: "der Menschheit eine annehmbarere Darstellung vom »Menschen, der Welt und Gott« vorzulegen, als sie die heutige Psychologie, Wissenschaft und Religion anbieten können." (Bennett [1973]/ 1976: 7) Drei knappe Antworten auf die Kernfrage lassen sich bei Bennett finden: (1) "Vor zweihundert Jahren schrieb Goethe: »Der Mensch soll streben zu werden, was er ist.« Gurdjieffs Lehre vom Menschen könnte nicht besser ausgedrückt werden." und (2) "... das Ziel des Lebens nicht die Befriedigung unserer Wünsche ist, sondern die Erfüllung eines kosmischen Zwecks." und (3) "Der wahre Zweck der menschlichen Existenz ist die Sicherung der bewußten und schöpferischen Entwicklung der Erde sowie alles dessen, was sie an Nichtlebendigem und Lebendigem enthält." (Bennett [1973]/ 1976: 253, 254, 287) Nach dem Gesetz der gegenseitigen Erhaltung ist die Welt nicht für den Menschen gemacht, sondern der Mensch ist dazu geschaffen, der Welt zu dienen (vgl. Bennett [1973]/ 1976: 255) und Gurdjieffs Sorge galt "der wachsenden Mechanisierung des menschlichen Lebens, der Massenhypnose und der verlorenen Fähigkeit zu unabhängigem Urteil". (Bennett [1973]/ 1976: 285)
Stand dieses Kapitels ist 2011-10-16.